1

Fallbeispiel

Neben den beiden Fallbeispielen aus dem Buch „Das Asperger Syndrom – nicht nur für Psychotherapeuten“ hier noch ein weiteres:

Situation Erstkontakt:

20jährige Frau kommt als Begleitperson der Mutter auf eine internistische Station im Rahmen deren Aufnahme zwecks einem elektiven Eingriff. Dem Referenten (in anderer Angelegenheit anwesender Medizinstudent im praktischen Jahr) fällt dabei die sehr direkte und unerwartete Art der Ansprache der jungen Dame auf (Erstsatz: „Was für ein Facharzt sind Sie?“ Zweite Frage: „Warum Medizin als Studienfach?“). Nach einem kurzen Wortwechsel teilt ihr der Referent mit, dass er derzeit keine Zeit habe, wenn sie möge, so könne Sie ihn gerne am Nachmittag nach 14.30 Uhr zu diesem Thema weiter fragen. Die junge Frau beendet mit einem Kopfnicken das Gespräch und kümmert sich weiter um das Gepäck der Mutter.

Tatsächlich findet sich die Dame um exakt diese Uhrzeit am Arztzimmer ein und beginnt ohne weitere Einleitung mit weiteren Fragen.

Vorgeschichte/Fremdanamnese:

Nach Angaben der Mutter (welche im Weiteren mit dem Ref. das Gespräch sucht) sei ihre Tochter schon immer „anders“ gewesen. Sie wolle sie nicht als Sorgenkind bezeichnen, aber sie habe sich über die Jahre angewöhnt, ihre Tochter nicht mit den Maßstäben anderer Kinder zu messen. Bereits im Kindergartenalter habe sie wenig Kontakt zu anderen gesucht und gerne für sich alleine gespielt, meist mit Spielsachen mit technischem Hintergrund (Fischer – Technik etc.). Einige Male habe die Mutter bei der Kindergärtnerin, später bei den jeweiligen Klassenlehrern vorstellig werden müssen – es sei mehrfach zu einer psychologischen Abklärung geraten worden, da nach Ansicht des Fachpersonals eine „soziale Verhaltensstörung“ vorgelegen habe. Einige Male sei es auch zu körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Kindern gekommen, ohne dass ein ersichtlicher Grund vorhanden/erkenntlich gewesen sei. Sie selbst habe soziotherapeutische Interventionen immer abgelehnt und auf möglichst große Freiräume für die Tochter wert gelegt.

Die schulischen Leistungen seien in Teilen unzureichend gewesen, speziell in den musischen und sozialen Bereichen seien mehrfach zum Teil versetzungsgefährdende Defizite aufgetreten.

Nach der Realschule habe die Dame ihre reguläre Schullaufbahn beendet und sich entschieden, ihr Abitur im Fernmodus zu machen. Seitdem verbringe sie die meiste Zeit neben Lernen für die im Sommer anstehende Abiturprüfung mit dem Selbststudium Japanisch (wovon sie die drei Alphabete mit mehreren tausend Schriftzeichen beherrsche) und dem Bau von Miniaturgebäuden aus Zündhölzchen.

Freunde im engeren Sinne habe sie nicht, zuweilen habe sie Verabredungen, die sie über das Internet kennenlerne.

Psychodynamische Anamnese:

In weiterer Folge kam es zwischen dem Referenten und der jungen Dame (Frau K.) zu mehreren Gesprächskontakten. Hierbei war die ausnahmslos sehr direkte und konkrete Kommunikationsweise von Frau K. augenfällig. Diese beschrieb ihre bisherige biographische Laufbahn als maßgeblich von selbst definierten Zielen geleitet. Seit sie sich erinnern könne (früheste Erinnerungen etwa um den 18./19. Lebensmonat herum) habe sich ihr Leben „richtig“ angefühlt, wenn sie sich selbst ein Ziel setzen konnte, für dessen Lösung sie Wege suchen konnte. Vorgaben anderer (Kinder, Erwachsene, Lehrer oder sonstige Personen aus dem Umfeld) hätten für sie nur insofern eine Bedeutung besessen, als daß sie ihr Kenntnisse vermitteln konnten, die ihrer Zielerreichung hilfreich gewesen seien. Mit den Rückmeldungen der Umwelt könne sie bis heute nur wenig anfangen, es sei denn, diese seien auf ihr eigenes Zielstreben auf der Sachebene bezogen.

Die Interaktion mit der Umwelt habe sie durch das Erlernen von Verhaltensformen für bestimmte Situationen erlernt – könne dieses auch für ihre Zwecke zum Teil effektiv einsetzen. Hier zum Beispiel bei der Suche nach kurzfristigen zwischengeschlechtlichen Kontakten, was ihre Ansprüche in diesem Bereich zufriedenstelle.

Bei einem Besuch im häuslichen Rahmen von Frau K. auf deren Einladung zeigte diese dem Referenten einen maßstabsgerechten, detailgetreuen Nachbau eines Shinto-Schreins aus Streichhölzern, welcher von ihr im Laufe von drei Jahren verfertigt wurde. Bleibenden Eindruck bei dem Referenten hinterließ die etwa zehnminütige Beschreibung des Objektes durch Frau K., welche diese vollständig auf Japanisch durchführte (auf Nachfrage nach dem Grund gab diese an, während der Anfertigung sich sämtliche zugehörigen Begriffe (Substantiva, Techniken, etc.) auf Japanisch beigebracht zu haben und diese in deren Verlauf bei jedem Handgriff wiederholt zu haben. Daher falle es ihr leichter, bei der Beschreibung auf das Japanische auszuweichen. Auf den Einwand des Referenten, daß er des Japanischen nur in Bruchstücken mächtig sei, erhielt er zu Antwort, daß er ja jederzeit nachfragen könne, wenn er etwas nicht verstehe.

Verlauf:

Der Kontakt zwischen dem Referenten und Frau K. erhielt sich noch einige Jahre. In dieser Zeit machte diese ihr Abitur im Fernmodus und begann sodann eine Ausbildung im Bereich Ingenieurwesen für Medizingerätetechnik, welches sie zumindest bis zum Vordiplom erfolgreich absolvierte. Wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes im Rahmen eines Praktikums bei einem japanischen Konzern verlor sich der weitere Kontakt.

Bis dahin lebte Frau K. in dem Haus ihrer Mutter, ihr privates Umfeld veränderte sich wenig. Auf neue Kontakte zu Mitstudenten etc. legte sie weiterhin nur dann Wert, wenn diese für ihre jeweilig definierten Ziele nützlich erschienen.